Das wichtigste geopolitische Ereignis der letzten Monate

Opec+ drosselt die Erdölproduktion gegen den ausdrücklichen Willen der USA

Liebe Leserinnen und Leser

Normalerweise lasse ich einen Text vor der Veröffentlichung einen Tag oder zwei reifen. Das fördert nicht nur die Qualität eines Artikels, sondern ermöglicht auch die Integration von Fakten, die in der Zwischenzeit eventuell auftreten.

Dieses bewährte Verfahren wird allerdings durch die beschleunigte Geschwindigkeit der Entwicklung gefährdet. Bis zum Abschluss der Revision eines Textes bringen neue entscheidende Ereignisse die Analyse bereits wieder durcheinander. Mittlerweile liegt ein Dutzend Texte der letzten zwei Monate bei mir auf Halde, die von den Ereignissen überholt wurden.

Deshalb habe ich mich entschlossen, die nachfolgende kurze Analyse ohne Revision zu veröffentlichen. Geniessen Sie sie also mit entsprechender Vorsicht und ziehen Sie Ihre eigenen Schlüsse. Die hoch komplexe Nachrichtenlage voller Fakenews zwingt ohnehin dazu, sich ein eigenes Bild zu machen und alle «Fakten» und «Analysen», egal aus welcher Quelle mit grösster Vorsicht zu behandeln.

Wie ich schon an verschiedenen Stellen betont habe, ist es in der gegenwärtigen Multikrise das Ziel des kollektiven Westens, die Hegemonie der USA und der hinter ihnen stehenden finanziellen Institutionen aufrecht zu erhalten. Für Russland geht es darum, angesichts dieser Bemühungen seine Souveränität zu bewahren.

Es ist für beide Seiten ein Kampf um Sein oder Nicht-Sein. Das von Wachstum und Ausbeutung abhängige westliche Wirtschafts- und Finanzsystem muss expandieren, sonst bricht es zusammen. Verliert Russland, wird sein Reichtum verteilt und seine Bevölkerung behandelt wie diejenige eines Drittweltlandes.

Seit der faktischen Aufhebung des Goldstandards durch Nixon im August 1971 ist die Verwendung des Dollars als alleinige Handelswährung für Erdöl der entscheidende geoökonomische Faktor. Die Abhängigkeit der modernen Zivilisation vom Erdöl macht die Staaten dieser Welt abhängig von Dollar-Reserven.

Wer Energie braucht, benötigt Dollar-Reserven. Dies hat es den USA erlaubt, gigantische Defizite aufzubauen und sie mit gedruckten Dollars zu decken, die sämtliche Staaten noch so gerne absorbierten – denn Erdöl braucht man immer, und damit auch Dollars.

Das ist auch der Grund, warum die USA sämtliche Länder mit Sanktionen oder Kriegen hart bestraften, die sich erdreisteten, ihr Erdöl für andere Währungen als den Dollar zu verkaufen. Irak, Iran, Syrien, Libyen, Russland und Venezuela sind die bekanntesten Beispiele.

Die Basis der US-amerikanischen Kontrolle des Erdölmarktes war ihre strategische Partnerschaft mit Saudi-Arabien, dem grössten Erdölproduzenten der Welt. Die Saudis steigerten (oder reduzierten) die Produktion nach den Wünschen der USA und erhielten dafür Waffen.

Der grösste Feind des sunnitischen Saudi-Arabien ist der schiitische Iran, der selber über grosse Erdölvorkommen verfügt und damit auch ein potenter ökonomischer Konkurrent ist. Diese traditionelle Feindschaft erklärt auch die enger gewordene Beziehung zwischen Saudi-Arabien und Israel, ebenfalls ein traditioneller Feind des Iran.

Nun hat sich in der letzten Woche Erstaunliches ereignet: Die Opec hat in der Formation «Opec+» – d.h. mit Russland – beschlossen, die Förderung zu reduzieren, gegen den erbitterten Widerstand der USA. Jede verfügbare Person im Weissen Haus soll sich Berichten zufolge dafür eingesetzt haben, diesen Entscheid zu verhindern. Erfolglos, wie wir wissen.

Der Entscheid ist für Joe Biden und die Demokraten kurz- und langfristig sehr gefährlich. Steigende Erdölpreise gefährden ihren Erfolg in den Zwischenwahlen vom 8. November. Der Benzinpreis an den Tankstellen ist bereits gestiegen. Langfristig erschüttert er die Position des Petrodollars.

Zudem dürfte es Russland sein, das vom Opec+-Entscheid am meisten profitiert. Denn Russland ist der Produktionsdrosselung nicht unterworfen – und wird von den Preissteigerungen am meisten profitieren.

https://oilprice.com/Energy/Crude-Oil/Russia-Could-Be-The-Biggest-Beneficiary-Of-OPEC-Cuts.html

Was ist geschehen? Wie kommt es, dass Saudi-Arabien die USA, seinen jahrzehntelangen Partner, im entscheidenden Moment desavouiert und mit Russland und seinem traditionellen Gegner, dem Iran, eine gemeinsame Politik verfolgt?

Russland ist es scheinbar gelungen, die Feindschaft zwischen Saudi-Arabien und dem Iran, die im Yemen einen Stellvertreterkrieg führen, zu temperieren und neue Perspektiven zu entwickeln.

Saudi-Arabien hat offenbar erkannt, dass seine wirtschaftlichen Aussichten besser sind, wenn es sich auf den riesigen Markt der BRICS-Staaten mit China und Indien als grössten Kunden ausrichtet, als wenn es weiterhin auf die gefährliche Partnerschaft der USA setzt. Nicht umsonst sagte Kissinger einmal:

«Ein Feind der USA zu sein ist gefährlich, aber ein Freund zu sein ist tödlich.» (Kissinger sagte dies in Bezug auf den letzten Präsidenten Südvietnams, Nguyen Van Thieu, der, von den Amerikanern im Stich gelassen, gegenüber den Vietkong kapitulieren musste).

Zudem sind die amerikanischen Verteidigungssysteme offensichtlich nicht in der Lage, die saudische Infrastruktur zu schützen. Im März gelang es den von Iran unterstützten Huthi-Rebellen, ein grosses Erdöllager von Aramco in Dschidda mit Raketen in Brand zu setzen. Saudi-Arabien möchte nun die besseren russischen Luftabwehrsysteme übernehmen.

Fazit:

Der Entscheid der Opec+ist

  • ein Schlag ins Gesicht von Joe Biden, der in den Zwischenwahlen seine Kontrolle über den Kongress verlieren könnte
  • ein Signal für den bevorstehenden Verlust des Dollars als Erdölwährung und als Leitwährung des Planeten Erde
  • eine markante Stärkung von Russland als verbindende Kraft in einer multipolaren Welt
  • eine symbolstarke Schwächung der westlichen Industriestaaten, ihre Wirtschaft vor der drohenden Deindustrialisierung zu bewahren.

Angesichts der schwierigen Lage der USA und ihrer Verbündeten werden verrückte, schwer einzuordnende Ereignisse in nächster Zeit zunehmen. Verzweiflung fördert irrationales Verhalten.

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Eine Antwort auf Das wichtigste geopolitische Ereignis der letzten Monate

  1. Cornelis Bockemühl sagt:

    Meine eigene erste Reaktion auf die Nachricht der Opec-Produktionsdrosselung war, ebenfalls noch „ungereift“: Aus Sicht der Erdölproduzenten macht es nur Sinn, die Zeit der hohen Ölpreise möglichst in die Länge zu ziehen, da sie so ihre ja auch nicht unendlichen Reserven schonen können und trotzdem genügend verdienen: mehr Geld für weniger Öl. Jedenfalls so lange wie sie auch noch genügend Kunden haben, die sich die hohen Preise leisten können.

    Dann wurde mir langsam klar, dass Saudi-Arabien damit von seiner langjährigen Praxis Abstand nimmt, wo es immer seine Eigeninteressen als Produzent gegenüber den Interessen der USA zurück gestellt hat. Die das Land dafür immer „gepäppelt“ und es gegen jeden in Schutz genommen haben, der irgend etwas an diesem despotischen Regime auszusetzen hatte

    Dieser Text mach mir nun erst richtig deutlich, durch den Hinweis auf das „Petrodollar-System“, wie fundamental dieser Richtungswechsel eigentlich ist!

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