Spaltung als Naturgesetz

Mit der Informationsüberflutung vermehren sich die Blasen – bis zur Vereinzelung.

Wie viele Informationen kann der Mensch verarbeiten? Diese Frage lässt sich wissenschaftlich nicht eindeutig beantworten, weil nicht klar ist, was «Information» im neurobiologischen Sinn eigentlich ist.

Einig ist man sich nur, dass der grösste Teil der Informationen gar nicht verarbeitet wird. Die Zahlen reichen von 90 bis 99,9 Prozent. Deshalb ist der Aufwand, mit dem die Werbung unsere Aufmerksamkeit zu gewinnen sucht, auch so gross.

Welche Reize haben bevorzugten Zugang zu unserem Gehirn? Evolutionsbiologisch ist klar: Es sind auf der einen Seite das Schnelle und das Laute, mögliche Gefahren, die sofort und ohne Einwirkung des Willens verarbeitet werden.

Das ist bis heute so, auch wenn es in Abwesenheit von Naturgefahren meist nicht mehr sinnvoll ist. Sie können dies als Fussgänger, vor einer Ampel wartend, beobachten: Obwohl in Sicherheit, betrachten Sie nicht die Umgebung, sondern die vorbeifahrenden Autos.

Auf der anderen Seite sind es die Signale der Zuneigung, des Willkommens und der Sicherheit, die ebenfalls unsere Aufmerksamkeit in Beschlag nehmen. Deshalb funktioniert Werbung mit Sex, der ultimativen Zuneigung, so gut. Dass wir dabei oft enttäuscht oder sogar betrogen werden, ist eine andere Sache.

Wir können folgendes vorläufiges Fazit ziehen: Der heutige Mensch wird überhäuft mit Signalen der Gefahr, hinter denen gar keine Bedrohung mehr steht und die ihn dennoch zu einer Reaktion zwingen. Und er wird überschwemmt mit Reizen der falschen Zuneigung und der illusionären Sicherheit.

Wie viele dieser widersprüchlichen Signale wir analysieren und korrekt einordnen können, hängt vermutlich von der Intelligenz und der Gelassenheit ab, mit der wir uns durch die überreizte Gesellschaft bewegen.

Es ist also nicht nur die Menge an Impulsen, die uns überfordert. Es sind auch die Widersprüche, die uns an die Grenze der sinnvollen Bewältigung treiben und das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle hochgradig gefährden, das der herausragende Psychologe Prof. Dr. Klaus Grawe (1943–2005) als eines der vier psychologischen Grundbedürfnisse identifiziert hat – neben den Bedürfnissen nach Bindung, Selbstwert und Lustgewinn. Auf einer höheren Ebene, sagt Grawe, hat der Mensch ein grundlegendes Verlangen nach «Stimmigkeit und Kohärenz», einer Einheit von Moral, Spiritualität und Lebenssinn.

Die Herstellung dieser Kohärenz hat sich in der Geschichte laufend verändert. Es begann vielleicht in vorgeschichtlicher Zeit mit Geschichten und Mythen, die man sich am Lagerfeuer erzählte. Mit der Sesshaftigkeit entwickelten sich Religionen und Staaten, die über ihre Machthaber, Priester und ihre Regeln eine einheitliche Weltanschauung erzwangen.

Abweichende Meinungen wurden nur so lange toleriert, als sie die geltende «Wahrheit» nicht gefährdeten. Wer darüber hinausging, von den Urchristen bis zu Giordano Bruno, landete auf dem Scheiterhaufen. Einfach weil sie abweichende Überzeugungen hatten – so schwach war die von oben verordnete Kohärenz.

Seit der Aufklärung gelten die Vernunft, die Wissenschaft und später die Demokratie als bevorzugte Instrumente zur Bildung von Konsens. Man diskutiert über die unterschiedlichen Sichtweisen und Erkenntnisse und akzeptiert den Mehrheitsentscheid oder das, was sich als «wahr» herausstellt. Das ist wenigstens die Idee.

Aber: Je mehr Menschen sich an dieser Diskussion beteiligen, desto mehr Botschaften werden verbreitet, die alle wahrgenommen und integriert werden wollen. Wie viele Sichtweisen überhaupt zu einer allgemein gültigen Wahrheit verarbeitet werden können, ist eine offene Frage. Sicher ist, dass es dafür eine (unscharfe) Grenze gibt.

Seit der Erfindung des Buchdrucks und dem Entstehen der Zeitungen spielen die Medien dabei eine massgebliche Rolle. Sie bestimmen, was einer öffentlichen Diskussion würdig ist. Und sie entscheiden zunehmend, was das Ergebnis dieser Diskussion sein soll.

Es ist offensichtlich, dass heute zu viele und zu unterschiedliche Sichtweisen in den öffentlichen Räumen auf uns einprasseln, als dass Stimmigkeit noch erreichbar wäre. Die Erwartung ist natürlich, dass die künstliche Intelligenz bei der dazu notwendigen Selektion helfen kann.

Nur: Sie wird sich auf dieselben Methoden stützen, die Machthaber immer benutzt haben, um Kohärenz herzustellen: auf die Verbreitung eines übergreifenden Narrativs, in das alle Botschaften sinnvoll eingeordnet werden, und auf die Unterdrückung alternativer Erklärungsmuster.

Dies ist am Beispiel des Ukraine-Kriegs deutlich zu erkennen. Im kollektiven Westen herrscht (noch) das Narrativ der siegreichen, im Moment etwas behinderten Ukraine, die nur mehr Waffen braucht, um ihre Ziele definitiv zu erreichen. Alles andere ist russische Propaganda. Wie es aber auf den Schlachtfeldern wirklich aussieht, das erfahren wir nicht.

Die Journalisten und Vermittler sitzen alle in geheizten Büros vor ihren Bildschirmen. Wenn doch einmal etwas aus den Schützengräben zu uns dringt, ist es so schrecklich, dass wir Augen und Ohren schliessen müssen.

Das ist genau das, was dem Menschen in Zeiten der Überforderung schon immer geholfen hat: Er beschränkt seine Wahrnehmung und konzentriert sich auf das, was in sein Weltbild passt und ihm nach seinem Ermessen das Überleben sichert. Es bilden sich Blasen. Mit Menschen, die mit ihren Ansichten diese eingeschränkte Stimmigkeit gefährden, wird öffentlich gar nicht mehr gesprochen.

Die Blasenbildung, also die Spaltung der Gesellschaft in isolierte und selbstbezogene Einheiten ist eine Tatsache, die unseren Alltag für alle sichtbar erreicht hat. Das erste, was es zu erkennen gilt, ist, dass diese Spaltung – eigentlich ist es eine Zersplitterung – weniger auf niedere Absichten zurückgeht, sondern auf eine fast naturgesetzliche Entwicklung.

Das physikalische Gesetz der Entropie – vereinfacht ausgedrückt: am Schluss gewinnt das Chaos – sorgt für zunehmende Unordnung. In einer materialistischen Welt gilt dies auch für Information.

Die sich auflösende Kohärenz ist ein entscheidender Faktor für die Eliten. Sie fördern die Blasenbildung durch Zensur – divide et impera! – und sind andererseits bestrebt, durch Propaganda eine neue, artifizielle Übereinstimmung herzustellen. Klaus Schwab, stellvertretend für die Mächte dieser Welt, versucht dies mit seinem Buch «Das Grosse Narrativ».

Es geht den Eliten darum, die Besitz- und Machtverhältnisse durch diese Zeiten des Umbruchs in eine neue Ära hinüberzuretten und alles auszuschliessen, was ihre Legitimation in Frage stellt. Es ist der Weg nach unten, die Reduktion der Wirklichkeit auf die Faktoren, die den Mächten dienen.

Der andere Weg durch dieses pralle Nirwana der universellen Zersplitterung ist der Weg hindurch. Gemäss Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955), Jesuit, Paläontologe und Philosoph, führt die Evolution zu einer Verdichtung mit zwei Konsequenzen: Konflikte und Spannungen streben auf einen Punkt der umfassenden Zerstörung zu – die Blasen platzen; gleichzeitig wächst das globale Bewusstseinsfeld zu der Erkenntnis, dass alles mit allem zusammenhängt.

An diesem «Punkt Omega» – nicht mehr allzuweit entfernt – stehen wir vor der Entscheidung zwischen Untergang oder organischer Einswerdung. Die Entropie führt ins Chaos, der Geist in die göttlich-unfassbare Synthese von Individualität und Einheit. Diese letzte Entscheidung müssen wir allein fällen, aber alle gleichzeitig.


Video dazu:

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2 Antworten auf Spaltung als Naturgesetz

  1. Markus sagt:

    Wieder ein hervorragender Artikel, weil er anregt.

  2. Peter Schläppi sagt:

    Im entsprechenden Beitrag auf zeitpunkt.ch (22.12.2023) kann eine Audiodatei abgerufen werden. Christoph Pfluger nennt dort zum Schluss Vergebung und Liebe als Mittel zur Überwindung von Spaltung. Damit bin ich sehr einverstanden.
    Beim Begriff „Liebe“ geht es glaub ich vielen Leuten so, dass sie ‚abhängen‘. Sie sagen: Liebe ist doch blind, etwas für Dummköpfe, die ihr letztes Hemd weggeben. Daher erachte ich es als wichtig, beim Anwenden des Begriffs „Liebe“ gleich eine differenzierte Umschreibung mitzuliefern.
    Erich Fromm hat mir dabei sehr geholfen: Er bezeichnet Liebe als eine Orientierung, Lebensausrichtung, die folgende vier Aspekte umfasst: Fürsorge, Respekt, Verantwortung, Angezogen-Sein (Faszination, Interesse, Erkenntnis). Von Dummheit kann so keine Rede mehr sein!

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