Israel hat nach der Niederlage vor Int. Gerichtshof gerissen zurückgeschlagen
Am Freitag hat der Internationale Gerichtshof, das höchste Gericht der Welt, sein Urteil zum Genozid-Verfahren gegen Israel gesprochen. Es hat allen Anträgen Südafrikas für provisorische Sofortmassnahmen stattgegeben mit Ausnahme des Begehrens nach einem Waffenstillstand. Einen solchen konnte es nicht anordnen, da die Palästinensische Autonomiebehörde nicht UNO-Mitglied ist und ausserhalb der Jurisdiktion des Gerichts liegt.
Aber die Anweisung an Israel, alles in seiner Macht stehende zu tun, u.a. um die Tötung von Zivilisten zu verhindern und humanitäre Hilfe zu ermöglichen, laufen auf eine weitgehende Einstellung der Kampfhandlungen in der bisherigen Form hinaus.
Israel musste mit einer Niederlage rechnen und hat sich bestens vorbereitet. Fast gleichzeitig mit der Veröffentlichung des Urteils hat es das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, das UNRWA beschuldigt, zwölf seiner Mitarbeiter seien am Hamas-Überfall vom 7. Oktober beteiligt gewesen.
Einzelheiten zu den Vorwürfen wurden nicht bekannt gegeben. Berichte in den israelischen Medien lassen vermuten, dass Fahrzeuge und Einrichtungen des UNRWA für den Angriff genutzt wurden. Neun der Betroffenen seien bereits entlassen worden, einer ist gestorben und die Identität der beiden anderen werde derzeit geklärt, sagte die UNO.
Das UNRWA beschäftigt über 30’000 Personen. Es übermittelt die Liste der Beschäftigten regelmässig an Israel, das bis jetzt nichts zu beanstanden hatte. Bis zum 6. Januar wurden 146 UNRWA-Mitarbeiter von israelischen Bombenangriffen getötet und zahlreiche Einrichtungen zerstört.
Dass sich unter 30’000 Mitarbeitern, die meisten Palästinenser, der Eine oder Andere inmitten eines heissen Krieges auf die Seite seines Volkes schlägt, ist nachvollziehbar. Entscheidend ist am Ende des Tages immer noch die Schwere der Delikte. Und die sind nach vor unklar.
Das Timing der israelischen Vorwürfe deutet auf eine sorgfältige Vorbereitung für den Fall einer Niederlage vor dem Int. Gerichtshof hin. Und die Anschuldigungen zeigten sofort Wirkung: Die Verbündeten Israels, darunter die USA, Grossbritannien und Deutschland haben ihre Zahlungen an das UNRWA per sofort eingestellt. Sie erschweren damit die Anordnung des Gerichts ganz erheblich, die humanitäre Hilfe für den Gaza-Streifen dringend zu verbessern.
Man kann sich über den Sieg des Völkerrechts vor dem Int. Gerichtshof freuen. Aber die rules based order ist offenbar stärker.
Das Urteil des Int. Gerichtshofes beendet nur den ersten Teil des Verfahrens, bei dem es um die Verfügung provisorischer Massnahmen ging, falls völkermörderische Handlungen und die Absicht dazu plausibel sind. Das hat das Gericht als erwiesen betrachtet.
Im weiteren Verlauf des Verfahrens, das Jahr dauern kann, geht es um die Identifikation strafbarer Handlungen und der Täter.
Gemäss Art. 3 der Genozid-Konvention sind folgende Handlungen strafbar:
(a) Völkermord;
(b) Verschwörung zum Völkermord;
(c) Unmittelbare und öffentliche Aufforderung zum Völkermord;
(d) Versuch der Begehung eines Völkermordes;
e) Beihilfe zum Völkermord.
In seinem Urteil vom 26. Januar hat der Int. Gerichtshof folgendes verfügt:
1. Der Staat Israel ergreift in Übereinstimmung mit seinen Verpflichtungen aus dem Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes in Bezug auf die Palästinenser im Gazastreifen alle in seiner Macht stehenden Massnahmen, um die Begehung aller in den Anwendungsbereich von Artikel II dieses Übereinkommens fallenden Handlungen zu verhindern, insbesondere:
(a) die Tötung von Mitgliedern der Gruppe;
(b) die Verursachung schwerer körperlicher oder seelischer Schäden bei Mitgliedern der Gruppe;
(c) der Gruppe vorsätzlich Lebensbedingungen aufzuerlegen, die ihre vollständige oder teilweise physische Vernichtung herbeiführen sollen, und
(d) die Verhängung von Massnahmen, die darauf abzielen, Geburten innerhalb der Gruppe zu verhindern;
2. Der Staat Israel stellt mit sofortiger Wirkung sicher, dass sein Militär keine der in Punkt 1 beschriebenen Handlungen begeht.
3. Der Staat Israel ergreift alle in seiner Macht stehenden Massnahmen, um die direkte und öffentliche Aufstachelung zum Völkermord an den Mitgliedern der palästinensischen Gruppe im Gazastreifen zu verhindern und zu bestrafen.
4. Der Staat Israel ergreift sofortige und wirksame Massnahmen, um die Bereitstellung dringend benötigter grundlegender Dienstleistungen und humanitärer Hilfe zu ermöglichen, um die widrigen Lebensbedingungen der Palästinenser im Gazastreifen zu verbessern.
5. Der Staat Israel ergreift wirksame Massnahmen, um die Zerstörung von Beweismaterial zu verhindern und die Sicherung von Beweisen zu gewährleisten, die im Zusammenhang mit den Anschuldigungen von Handlungen stehen, die in den Anwendungsbereich von Artikel II und Artikel III der Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermordes an Mitgliedern der palästinensischen Gruppe im Gazastreifen fallen.
6. Der Staat Israel legt dem Gerichtshof innerhalb eines Monats ab dem Datum dieses Beschlusses einen Bericht über alle Massnahmen vor, die zur Umsetzung dieses Beschlusses ergriffen wurden.
Alle Bestimmungen wurden mit 15 zu zwei Stimmen angenommen, abgelehnt haben die ugandische Richterin Julia Sebutinde und der israelische adhoc-Richter Aharon Barak. Letzterer befürwortete allerdings Bestimmung vier bezüglich der humanitären Massnahmen.
Viele westliche Medien kritisierten, dass die Hamas im Urteil nicht vorkomme. Das trifft nur teilweise zu. Zum einen liegt die Hamas wie erwähnt ausserhalb der Jurisdiktion der Gerichts, zum anderen hat das Gericht die Hamas in durchaus deutlichen Worten kritisiert:
«Der Gerichtshof hält es für notwendig zu betonen, dass alle am Konflikt im Gazastreifen beteiligten Parteien an das humanitäre Völkerrecht gebunden sind. Er ist zutiefst besorgt über das Schicksal der Geiseln, die während des Angriffs in Israel am 7. Oktober 2023 entführt wurden und seitdem von der Hamas und anderen bewaffneten Gruppen festgehalten werden, und fordert ihre sofortige und bedingungslose Freilassung.»
Der Fall ist also klar. Wie es aber weitergeht, ist unsicher. Netanjahu, der schon im Vorfeld angekündigt hatte, er lasse sich von Den Haag nichts vorschreiben, hat das Urteil scharf kritisiert: «Der gewaltsame Versuch, Israel das Grundrecht auf Selbstverteidigung zu verweigern, ist eine eklatante Diskriminierung des jüdischen Staates. Der gegen Israel erhobene Vorwurf des Völkermordes ist nicht nur falsch, er ist empörend und sollte von anständigen Menschen überall zurückgewiesen werden.»
Der nächste verbindliche Termin nach dem Urteil ist der 26. Februar 2024. Bis dann muss Israel einen Bericht über die ergriffenen Massnahmen vorlegen.
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