Neutralität: Der Bundesrat beginnt den Abstimmungskampf mit einer Lüge

Er behauptet gegen besseres Wissen, die Neutralitätsinitiative verhindere Sanktionen gegen kriegführende Länder

Blitzschnell hat der Bundesrat auf die Neutralitätsinitiative reagiert. Am 11. April wurde sie eingereicht, am 28. Mai für gültig erklärt und knapp einen Monat später hat sie der Bundesrat ohne Gegenvorschlag zur Ablehnung empfohlen.

Das einmalige Tempo zeigt zweierlei:

  • Über die Neutralität der Schweiz soll keine breite Debatte geführt werden
  • und die Abstimmung soll stattfinden, solange die Stimmung in der Bevölkerung noch eine Parteinahme für den kollektiven Westen befürwortet.

Der Bundesrat argumentiert unredlich: Er schreibt, «dass sich die bisherige Regelung und Praxis der Neutralität bewährt hat». Aber in der Bundesverfassung wird die Neutralität gar nicht geregelt. Die Verfassung beauftragt die Organe lediglich, Massnahmen zur «zur Wahrung der äusseren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz», zu treffen, in Art. 173 die Bundesversammlung und in Art. 185 den Bundesrat.

Die Bundesversammlung und namentlich der Bundesrat können die Neutralität also interpretieren, wie sie wollen. Dies entspricht dem Konzept der «flexiblen Neutralität», neudeutsch für ihre schrittweise Aufhebung. Dies hat Aussenminister Cassis Ende Februar 2022 auch genutzt und die Sanktionen der EU gegen Russland praktisch im Alleingang übernommen.

Das Argument, es handle sich bei der russischen Invasion in die Ukraine um einen völkerrechtswidrigen Krieg, trifft zwar zu, sticht aber nicht, solange nicht alle völkerrechtswidrigen Angriffskriege von der Schweiz sanktioniert werden. Das hat sie weder beim Krieg der NATO gegen Jugoslawien 1999, der USA gegen Afghanistan 2001 und der von den USA gegründeten «Koalition der Willigen» gegen den Irak 2003 getan.

Das völkerrechtliche Argument für die Sanktionen im Ukraine-Krieg ist also bloss ein Vorwand. Gemäss Embargo-Gesetz von 2002 darf die Schweiz allerdings nicht nur Sanktionen der UNO, sondern auch der OSZE und der «wichtigsten Handelspartner» ergreifen.

Wirtschaft zuliebe darf die Schweiz also mit nicht-militärischen Mitteln in Kriege eingreifen. Das dürfte bei den Sanktionen gegen Russland eine entscheidende Rolle gespielt haben. Man hört gerüchteweise immer wieder, Cassis sei von den USA über den Hebel der Grossbank UBS massiv unter Druck gesetzt worden.

Der Bundesrat stellt die Neutralitätsinitiative in der Begründung seiner Ablehnung auch falsch dar, wohl kaum aus Unwissenheit, sondern eher aus Kalkül. So schreibt er: «Mit der neuen Verfassungsbestimmung dürfte die Schweiz in Zukunft unter anderem keine Sanktionen gegen kriegführende Staaten mehr ergreifen.» Das ist Unsinn.

Im Initiativtext heisst es zum Verbot der Beteiligung an militärischen Auseinandersetzungen zwischen Drittstaaten und an nicht-militärischen Zwangsmassnahmen ausdrücklich:

«Vorbehalten sind Verpflichtungen gegenüber der Organisation der Vereinten Nationen (UNO) sowie Massnahmen zur Verhinderung der Umgehung von nichtmilitärischen Zwangsmassnahmen anderer Staaten.»

Mit anderen Worten: Wenn die UNO rechtsgültig Sanktionen beschliesst, wird sich auch die Schweiz daran beteiligen. Und die Schweiz kann auch nicht für Umgehungsgeschäfte missbraucht werden, ein oftmals erhobener Vorwurf gegen die Praxis der Neutralität.

Zusammenfassend kann man sagen, dass der Bundesrat bereits in seiner ersten offiziellen Stellungnahme zur Neutralitätsinitiative lügt. Das verspricht nichts Gutes für den Abstimmungskampf, der wohl bereits nächstes Jahr geführt werden muss.

Volksentscheide sind heute weniger von Sachverstand geprägt, sondern von Gefühlen. Und die werden mit Slogans von wenigen Worten und eingängigen Bildern geprägt. Auch wenn der Initiativtext kurz ist, werden ihn wohl die wenigsten Stimmbürger lesen, bevor sie zur Urne gehen. Sie werden den Slogans und künstlich geförderten Gefühlen folgen.

Aber die Neutralität ist keine Frage des Gefühls, sondern der Vernunft. Die Haltung der Schweiz im Ersten Weltkrieg zeigt dies deutlich. Während sich die deutschschweizer Mehrheit auf Seiten Deutschlands fühlte, stand die Romandie auf Seiten Frankreichs, der anderen Kriegspartei. Trotzdem hat die Schweiz erfolgreich ihre Neutralität gehalten und auch innenpolitisch Frieden gewahrt.

Wenn zwei sich streiten, braucht es keine Dritten, die sich einmischen oder gar profitieren – immerhin sind die USA bis jetzt die grossen Gewinner des Kriegs zwischen Russland und der Ukraine. Dann braucht es Staaten mit einer vertrauenswürdigen, nicht einer flexible Neutralität, die vermitteln und die Parteien an einen Tisch bringen.

Die kommende Abstimmung zur Neutralitätsinitiative bereitet mir Sorgen. Zum Einen wird sie von Emotionen geprägt sein – «der böse Russe» – zum Andern von der classe politique und der Verwaltung, die eine Annäherung an die NATO und den Kauf von immer mehr westlichen Rüstungsgütern anstreben, bis wir das NATO-Ziel von zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts erreicht haben. Die traditionell kriegskritische Linke steht dabei fest im Lager der NATO-Freunde.

NATO ist gleichbedeutend mit Expansion, – seit neustem in Afrika – mit Aufrüstung und mit Kriegsgefahr. Ihre illegalen Kriege haben in den letzten 25 Jahren Millionen von Menschen das Leben gekostet.

Die Neutralitätsinitiative, so nötig sie ist, bringt auch ein Risiko mit sich. Wird sie abgelehnt, bedeutet dies die stillschweigende Zustimmung zu ihrer weiteren Flexibilisierung, sprich Aufhebung.

Die Neutralität gehört so sehr zur DNA der Schweiz, dass man es offenbar nicht für nötig befand, sie in der Verfassung festzuschreiben. Und ohne Schutz der Verfassung, wird sie den Grossmächten und ihren Handlangern in der Schweiz geopfert.

Es gibt ein kleines Grüppchen von Linken um den emeritierten Soziologie-Professor Wolf Linder, das eine Kampagne für die Neutralität aufbauen will, die speziell Linke und Grüne anspricht. Sie werden zusammen mit Wählern des politischen Zentrums die Abstimmung entscheiden.

Die Gruppe ist zwar noch nicht ganz parat – trotzdem schon der Hinweis, damit man sich darauf vorbereiten kann, sich aktiv am Abstimmungskampf zu beteiligen.

Es geht um die weitere Annäherung an die NATO und letztlich um Krieg und Frieden. Da kann niemand abseits stehen. Corona brachte das Leben zeitweilig zum Stillstand. Ein Krieg wird es definitiv beenden.

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