Warum es mit dem Westen zu Ende geht

Der französische Anthropologe und Historiker Emmanuel Todd liefert in seinem Buch «Der Westen im Niedergang» bemerkenswerte und überzeugende Einsichten.

An wen wenden wir uns, wenn wir die Welt verstehen wollen? An Journalisten, Geopolitikerinnen oder Historiker? An Astrologen, Prophetinnen oder die lauteste Stimme mit den meisten Followern?

Ich hoffe, dass Sie sich an den eigenen Geist wenden und dass Sie diesen Ihren Geist mit immer neuen Sichtweisen anregen – aktuell des französischen Anthropologen und Historikers Emmanuel Todd, dessen brillante geopolitische Analyse jetzt auf deutsch vorliegt.

Den eindeutigen französischen Titel «La Défaite de l’Occident» hat der Westend-Verlag mit «Der Westen im Niedergang» abgeschwächt. Auf deutsch scheint noch Rettung möglich. Aber Todd – der in den 1980er Jahren das Ende der Sowjetunion prognostiziert hatte – lässt keinen Zweifel:

Die Niederlage des Westens ist besiegelt, er kann es einfach noch nicht zugeben. Dabei sind es weniger Russland und China, die den Westen militärisch, bzw. wirtschaftlich besiegen. Es ist der Westen selbst, der den zunächst nihilistischen und dann suizidalen Weg gewählt hat.

Wie kommt Todd zu dieser Diagnose? Für Todd ist der Protestantismus die Basis der weltweiten Vorherrschaft der westlichen Zivilisation.

Seine Kernelemente: Eine strenge Arbeitsmoral sorgte für wirtschaftliche Effizienz. Das hohe Bildungsideal erzeugte einen starken Mittelstand und als Folge demokratische Kräfte. Und die Prädestinationslehre tolerierte Unterschiede unter den Menschen und ermöglichte damit den Kapitalismus mit seinem unwiderstehlichen Umverteilungseffekt.

Der Protestantismus machte England, die USA, Deutschland und Skandinavien stark. Aber er befindet sich seit dem Endes 19. Jahrhunderts in stetigem Niedergang, zuerst in einen Zombie-Protestantismus mit relativierten Werten, in dem man schliesslich sonntags nicht mehr in den Gottesdienst geht und nur noch Beginn und Ende des Lebens und die Hochzeit kirchlich begeht.

Und wenn die Kirche auch bei den wichtigen Schwellen des Lebens nichts mehr zu besorgen hat, beginnt der Null-Protestantismus. Todd, der in seinem ihm eigenen Humor klare Aussagen liebt, lässt den Null-Protestantismus mit der Einführung der «Ehe für alle» beginnen, in den Jahren nach 2010. Übrigens hat gemäss Todd auch der Katholizismus einen Null-Zustand erreicht.

Stellvertretend für den Führungsanspruch des Protestantismus stehen die WASPs, die white anglosaxon protestants, die die USA bis in die 1960er Jahre regierten und seither in ihrem eigenen Land faktisch demontiert und ersetzt wurden durch Neokonservative, deren geodominante Ziele jedes Mittel heiligen, selbst Krieg und Terrorismus.

Im Gegensatz zum vorherrschenden Narrativ definiert Todd den Westen als «liberale Oligarchie» und Russland und einige seiner Partner als «autoritäre Demokratie».

In der liberalen Oligarchie herrscht laissez-faire, solange die Besitzverhältnisse nicht tangiert werden und die Eliten den politischen Gang der Dinge ungehindert bestimmen.

In der autoritären Demokratie hat das Wohlergehen des Ganzen und seiner Bevölkerung Priorität, was praktischerweise autoritär durchgesetzt wird.

Natürlich hat der Anthropologe Todd noch eine Reihe anderer, eher unkonventionelle Indikatoren, an denen er den wahren Zustand einer Gesellschaft oder eines Landes erkennt. Sehr aussagekräftig ist für ihn die Kindersterblichkeitsrate, da sie die schwächsten Glieder der Gesellschaft und die Zukunft betrifft. Hier hat Russland die USA in einer bemerkenswerten Entwicklung in den letzten zwei Jahrzehnten von bedrohlich hohem Niveau aus überholt.

Auch die Familienstrukturen oder die Erbfolge haben weitgehende politische Konsequenzen, wie Todd anhand zahlreicher Beispiele zeigt. Die im Westen vorherrschende Kernfamilie führt zu einer eher individualistischen Gesellschaft, die Grossfamilie zu kommunitären Strukturen.

Ein weiterer Indikator für den wahren Zustand eines Landes ist die Zahl der Ingenieure, die ausgebildet werden. Denn sie sind es, und nicht die Politologen und Gender-Wissenschaftler, die das Ding am Laufen halten: die Brücken, die Fabriken, die Energieversorgung, die technologische Infrastruktur und nicht zuletzt die Verteidigung.

Hier zeigt sich: Russland bildet mehr Ingenieure aus als die Vereinigten Staaten mit mehr als doppelt so grosser Bevölkerung, die immer noch im Ruf der technologischen Führerschaft stehen.

Russland muss nicht mit Chips aus alten Waschmaschinen vor sich hinwursteln, wie Ursula von der Leyen behauptet. In der symbolträchtigen Weltraumtechnik ist Russland führend. Seit 2011 fliegen die amerikanischen Astronauten in den zuverlässigen russischen Sojus-Kapseln zur internationalen Raumstation ISS.

Um diese Peinlichkeit zu beseitigen, bestellte die NASA für mehrere Milliarden bei Boeing einen Ersatz. Nach jahrelanger Entwicklung versagte der Starliner bei seinem ersten ernsthaften Einsatz in vergangenen Juli und musste ohne Besatzung zurückkehren. Anstatt eine Woche müssen die US-Astronauten jetzt ein halbes Jahr in der Raumstation ausharren, bis sie von einer neue Ersatzfähre von Elon Musks SpaceX wider auf die Erde zurückgebracht werden. Ein Beispiel mit eindeutiger Symbolkraft!

Emmanuel Todd macht deutlich, was für eine erfolgreiche Zivilisation entscheidend ist: verlässliche Werte, nicht zuletzt geistig-spirituelle; eine breite, auf tatsächliche Fähigkeiten ausgerichtete Bildung und eine Kultur des freien Austauschs. Der Kontrast zu den tatsächlichen Verhältnissen im kollektiven Westen könnte kaum grösser sein.

Einen stichhaltigen Fahrplan für den weiteren Niedergang des Westens versucht Todd nicht zu liefern, wenn ich mich recht erinnere. Es können immer Ereignisse auftreten, die eine Sache beschleunigen oder verlangsamen oder ihre Tendenz ändern. Aber der Grundsatz bleibt: Es lässt sich nicht aufhalten.

Für ein unaufhaltbares Ende des Spiels gibt es neben den Argumenten Todds noch eine ganze Reihe weiterer Gründe, zum Teil mit naturgesetzlichem Charakter: Unendliches Wachstum ist auf einem endlichen Planeten nicht möglich.

Zwei erhebliche Lücken in Todds geopolitischer Analyse müssen trotz seiner stringenten Argumentation erwähnt werden:

  • Todd unterstellt den massgebenden Akteuren gute Absichten. Dass das Chaos und der Nihilismus nicht auch gewollt sein könnten, erwägt er nicht. Vielleicht will er einfach einen Bogen um das Glatteis der «Verschwörungstheorien» schlagen.
  • Todd erklärt zwar auf einer Seite die Geldschöpfung aus dem Nichts durch die Kreditvergabe der privaten Banken. Aber auf die verheerenden Konsequenzen – Überschuldung, Wachstums- und Expansionszwang und Umverteilung – geht er nicht ein. Sie würden viele der bedenklichen Entwicklungen erklären, die uns so grosse Sorgen bereiten.

An meinem «Lesebefehl» ändert das nichts. Auch das beste Buch soll das eigene Denken nicht ersetzen, sondern im Gegenteil: anregen!

Also, holen Sie sich das Buch, verstehen Sie, warum die Geschichte zu Ende geht und helfen Sie mit, eine neue zu beginnen.


Emmanuel Todd: Der Westen im Niedergang. Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall. Aus dem Französischen von Tabea A. Rotter. WestendVerlag, Oktober 2024. 350 Seiten. € 28.–.

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